Stephan

09.05.2022

Heute ist es mir eine besondere Ehre meinem Gongfu-Bruder Stephan Rau zu seiner bestandenen Lehrerprüfung am Sonntag den 8.5.2022 zu gratulieren.

Warum Gongfu-Bruder? Was hat es damit auf sich? Hierzu möchte ich Meister Chen Peishan zitieren:

"Ich forschte in unterschiedlichsten Kunstformen und philosophischen Lehren. Wenn ich Künste mit dem Taijiquan vergleiche, komme ich zu der Überzeugung, dass das Taijiquan als eine Form von Kunst angesehen werden sollte.

Nicht nur die körperliche Seite, sondern auch die Denkweise, die Gefühle und die Sensibilität. Es sollten auch die traditionellen Ideen der Verbindung zwischen dem Lehrer und seinen Schülern erhalten bleiben. Die Beziehung zwischen Schüler und Schüler - überhaupt, wie die Menschen miteinander umgehen, unsere Humanität.

In China gibt es ein Ritual, das sich baishi 拜师 nennt. Es ist ein Vertrauensbündnis zwischen dem Lehrer und dem Schüler. Es ist wie in einer Familie und wie man seine Familienmitglieder liebt. Das ist eine Sache, die man nicht für Geld kaufen kann. Wirkliches Taijiquan ist nicht bezahlbar. Es ist ein Gefühl, Kultur und Kunst, eine wunderschöne Sache."

Wer dies liest hat hierzu sicher die unterschiedlichsten Gedanken. Vielleicht solche:

"Wieso Kunst?" Das hat doch mit Gesundheit zu tun, oder?"
"Passt das alles noch in unsere moderne Zeit?"
"Ich gehe als Kunde in eine Schule, zahle die Kursgebühr, und möchte dafür lediglich eine Dienstleistung erhalten."
"Das klingt doch alles sehr idealisiert, und ein wenig seltsam."
"Ich möchte Taijiquan zur Entspannung als Ausgleich für den Alltagsstress üben, mehr nicht."

Die Beweggründe weshalb man mit Taijiquan beginnt können unterschiedlichster Art sein. Egal ob zur Gesundheitspflege, Stressbewältigung, körperlicher Fitness, die Funktionsweise von Entspannung zu erlernen, als Kampfkunst etc., für all diese Beweggründe kann man einen Weg im traditionellen Taijiquan finden. Und das zeichnet eben eine umfassende Körper- und Geisteskunst aus.

Fast alle die ich kenne, die irgendwann anfingen Taijiquan zu lernen, mich eingeschlossen, wussten zu Anfang sehr wenig oder überhaupt nichts über Taijiquan. Unterschiedliche Motivationsgründe führten dazu, dass wir mit dem Training begannen, und so mancher hörte auch aus unterschiedlichen Gründen wieder damit auf.

Bei jenen die blieben wuchs und wächst das Verständnis für diese Kunst Jahr für Jahr, beim einen schneller, beim anderen langsamer. Die Lerngeschwindigkeit ist nicht wichtig, wichtig ist es sich Tag für Tag weiterzuentwickeln, und dafür benötigt man den Willen zu lernen und zu üben.

Im Taijiquan steht die eigene Entwicklung im Fokus, ohne Leistungsdruck und ohne Vergleich mit den anderen. Das Lernen ist ein Miteinander, kein Gegeneinander. Man lernt eine Kunstfertigkeit, strebt danach ein "Gongfu" zu entwickeln, drückt mit seiner Kunst sein innerstes Selbst aus, und wird, wenn man dorthin gelangt, in der fünften und damit höchsten Stufe der Entwicklung (nach der Definition in unserer Tradierungslinie), völlig frei. 

Für jene, für die Taijiquan zu einer Leidenschaft wird an der ihr Herz hängt, wird es zum Lebensweg. 

Begleitet wird man auf diesem Weg zu aller erst von seinem Lehrer, aber auch von jenen Mitschülern, die genauso "ticken" wie man selbst.

Dass nun Stephan die Ehre zuteilwurde in die Riege der Lehrer aufgenommen worden zu sein, freut mich sehr.

Anny