Qigong/Taiji mit Rollstuhlfahrerin, ein Erfahrungsbericht

04.04.2020

von Harald Grimme
Vorweg etwas zu mir und meiner Person: Ich trainiere mit Begeisterung seit März 2015 Chen Taijiquan bei Dietmar Stubenbaum in der Pagode in Friedrichshafen. Am 19. Februar 2018 bestand ich die Prüfung zum Kursleiter im Chen-Taijiquan. Danach begann ich Kurse beim Kathrinahus (CH Widnau) zu leiten. Das Training in der Pagode führe ich weiterhin fort, und 1-2 mal in der Woche fahre ich von der Schweiz nach Friedrichshafen.

Harald Grimme
Harald Grimme

Vom 08. November 2019 bis zum 11. März 2020 (Corona-Krise) hatte ich eine Kursteilnehmerin, die im Rollstuhl sitzt.

Rosa Marie R. hatte sich telefonisch zum Kurs für Qigong/Taiji erkundigt und anschließend als Anfängerin angemeldet. Selbstverständlich hatte ich zugesagt, obwohl ich mir noch gar nicht darüber im Klaren war, wie Qigong/Taiji mit einer Rollstuhlfahrerin möglich sein könnte! Rosa ist ca. 40 Jahre alt, hat einen Sohn und wohnt im Rheintal in Balgach.

Auf der Suche nach einer alternativen Behandlungs- und Heilmethode war sie auf meinen Kurs aufmerksam geworden. Die Rollstuhlfahrerin hatte die Vorstellung (Yi) und war entschlossen, selbst etwas für sich zu tun. Sie hatte kein Gefühl mehr im Unterleib; sie konnte ihr Becken nicht kippen, geschweige denn Kreisen. Sie war seit einigen Jahren auf den Rollstuhl angewiesen, denn durch einen Unfall kann sie ihre Beine nicht mehr bewegen bzw. nicht mehr laufen.

Ich hatte mich wenig mit ihr über ihre Behinderung unterhalten; ich wusste nicht, wie es ihr bei dem Unfall ergangen war. Ich war etwas zurückhaltend, warum auch immer.

Ich erzählte Dietmar davon fragte ihn um Rat gefragt. Er sagte mir, das geht schon!

Also habe ich mir Gedanken gemacht, wie ich mit ihr und den anderen Kursteilnehmern die Übungsstunde absolvieren könne.

Ich hatte mich im Internet etwas informiert. Qigong im Sitzen ist kein Problem, dazu gibt es genügend Möglichkeiten. Aber zum Taiji-Training hatte ich nichts gefunden.

Also habe ich zunächst eine Übungsstunde im Sitzen gestaltet, um zu erfahren wie dies ist. Auch um besser das Training mit einer Rollstuhlfahrerin zu spüren. Die Übungsstunde funktionierte sehr gut, ich war zufrieden und selbst sehr begeistert.

Rosa Marie R. ist trotz ihrer Einschränkung eine lebhafte, ehrgeizige Persönlichkeit. Sie machte sämtliche Übungen mit soweit es ihr möglich war. Die anderen Kursteilnehmer hatten kein Problem dabei.

Nach den Weihnachtsferien ist diese Gruppe leider geschrumpft, und nur Rosa Marie R. blieb noch übrig. Aber für mich war das kein Grund nun den Kurs mit ihr zu beenden. Im Gegenteil, es war ein gutes, intensives Training mit ihr allein. Ich war jedes Mal erstaunt, was wir für Fortschritte machten.

Jede Woche nahm sie mit Freude am Training teil. Auch Zuhause übte sie fleissig die Übungen, die ich ihr gezeigt hatte. Rosa Marie R. verbesserte ihre Körperwahrnehmung, es war auch eine Schulung von Konzentration (Yi) und Geist (Xin). Es half ihr, mit der Behinderung besser leben zu können.

Wir übten aber nicht nur Qigong-Übungen, sondern auch spezielle Taiji-Basis-Übungen, wie z. B. «Wolkenhände» (yun shou) (云手) und «Seidenfaden-Übungen» (chang si gong) (缠丝), aber auch einzelne Abschnitte der Sizheng-Form wie z.B. «Einfache Peitsche» (单鞭), «Den Mantel befestigen» (lan zha yi) (懒扎衣), «Sechsmal versiegeln und viermal verschließen» (liù fēng sì bì) (六封四閉) u. a.

Die Übungen «Stehende Säule» bzw. zhan zhuang (站桩) und die Bewegung in 4 Himmelsrichtungen (維默爾) waren etwas schwieriger; aber sie verstand trotzdem, worauf es bei diesen Übungen ankam. Bewegungsimpulse sowie körperliches Verständnis gaben ihr ein gutes Gefühl für die Einheit des Körpers.

Das Qigong/Taiji-Training war für sie eine echte Bereicherung. Da im Rollstuhl die Bewegungsmöglichkeiten (Shen) beschränkt sind, gibt ihr das Training neue Hoffnung für das Leben im Rollstuhl. Psychische Ausgeglichenheit, Selbstvertrauen und Lebensmut, mehr Freude am Leben und Teilnahme am Gemeinschaftsleben war ihre Einstellung zum Training.

Sie kam regelmäßig zum Einzeltraining bis März 2020, danach war es nicht mehr möglich mit ihr zu trainieren. Corona hat die Welt verändert! Es ist für uns beide eine ungewollte Situation, aber wir werden nach der Krise wieder weiter zusammen trainieren.

Ich hatte ca. ¼ Jahr das Vergnügen mit einer Rollstuhlfahrerin Qigong/Taiji-Training zu absolvieren. Es war für mich etwas Neues und Wunderbares, eine sehr positive Erfahrung. In schwierigen Situationen kann die Ruhe durch Qi Gong/Taiji sehr helfen.