Eine weit verzweigte Familie

01.10.2000

Von Dietmar Stubenbaum (erschienen im Taijiquan & Qigong Journal 4/2000)
Die Entwicklung der verschiedenen Richtungen innerhalb der Chen Familie
Es gibt immer wieder unterschiedliche Darstellungen über die Geschichte des Taijiquan / Tai Chi Quan. Dietmar Stubenbaum hat wesentliche Passagen aus den Aufzeichnungen der Chen Familie zusammengetragen, die über einige ihrer bedeutenden Mitglieder Auskunft geben. Sein Lehrer Chen Peishan klärt ergänzend geläufige Irrtümer auf. Die unterschiedlichen Bezeichnungen für Formen und Stilausprägungen im Chen Taijiquan führen häufig zu Verwirrung. 

Diese wird noch dadurch verstärkt, dass manche Begriffe verschieden benutzt werden.

Dietmar Stubenbaum, der selbst mehrere Richtungen des Chen Stils erlernt und eine Reihe namhafter Meister in China und auf Taiwan getroffen hat, erläutert die Zuordnung von Dajia und Xiaojia, Laojia und Xinjia sowie Zhaobao-Taijiquan und Huleijia.

Als Begründer der ursprünglichen Kampfmethode des Chen Clans gilt Chen Pu (Bo), gebürtig aus der Präfektur Zezhou in der Provinz Shanxi (heute Jincheng). Von Zezhou übersiedelte Chen Pu in den Kreis Hongdong, den er 1372 wieder verließ, um sich in der Provinz Henan in einem kleinen Dorf ungefähr dreißig Kilometer südöstlich von Huaiqing niederzulassen. Chen Pus Großmütigkeit und umfassende Kenntnisse in den Kampfkünsten brachten ihm bei den Dorfbewohnern hohen Respekt.

Wegen häufiger Überschwemmungen übersiedelte Chen Pu nach Changyan, zehn Kilometer östlich der Stadt Wen. Das Gebirge Qingfeng war nicht weit entfernt und diente Räubern und Wegelagerern als sicheres Versteck, von wo aus sie ihre Beutezüge antraten. Die Bevölkerung von Changyan wurde oft überfallen und es war schwer der täglichen Feldarbeit für den notwendigen Lebensunterhalt nachzugehen. Chen Pu eröffnete eine Kampfkunstschule, um die jüngere Bevölkerung im Faustkampf und im Umgang mit Waffen zu unterrichten. Sein Ziel war, das Hab und Gut des Dorfes besser schützen zu können. Die meisten Bewohner des Dorfes trugen den Familiennamen Chen und da ein Graben von Norden nach Süden durch das Dorf lief, wurde sein Name von Changyan in "Chenjiagou" (Jia - Familie, Gou - Graben) geändert.

Chen Wangting (ca. 1600 - 1680), mit anderem Namen Zouting, stammte aus der neunten Generation der Chen Familie. Er lebte am Ende der Ming- Anfang der Qing-Dynastie. Schon als Kind übte er sich hart in den Kampfkünsten seiner Vorfahren. Er war ein gebildeter Mann, bewandert in der Kalligraphie, und galt als Adept der Feder und des Schwertes. In der Familienchronik von 1754 (1822 ergänzt) wird folgendes berichtet:
Chen Wangting bestand die staatliche Prüfung im zivilrechtlichen Dienst am Ende der Ming- und das Militärexamen am Anfang der Qing-Dynastie. Er war ein Experte der Kampfkunst, Begründer der Chen Säbel- und Speerformen und erlangte Berühmtheit in Shangong durch seine vielen erfolgreichen Kämpfe gegen Banditen. Im Ruhezustand nutzte er seine Zeit zum Studieren der klassischen Texte und übte sich in der Kampfkunst. Chen Wangting gilt als Gründer des Taijiquan der Chen Familie. Er nahm zur Formgebung dieser Kampfkunst seine Kenntnisse im Faustkampf und den Kriegskünsten, die Prinzipien von Yin und Yang aus dem Klassiker Yijing, die Theorie der Leitbahnen aus der Chinesischen Medizin und da Daoyin (Qigong).

Chen Yousheng und Chen Youben, vierzehnte Generation der Chen Familie, waren Söhne des berühmten Chen Gongzhao. Chen Yousheng bestand die Prüfung im zivilrechtlichen Dienst vermutlich zwischen 1820 und 1830. Er war sehr bewandert im Taijiquan und verstarb im besten Alter durch Ertrinken in einem See. Sein jüngerer Bruder Youben war besonders kunstvoll im Taijiquan und stand für Bescheidenheit und gute Manieren.
Die beiden Brüder waren die führenden Taiji-Experten ihrer Zeit. Chen Changxing (1771 - 1853), auch Yunting genannt und ebenfalls aus der vierzehnten Generation der Chen-Familie, lernte von seinem Vater Chen Bingwang. Er gilt als Verfasser der "Zehn besonderen Merkmale des Taijiquan", einer Abhandlung über den Faustkampf und Schlüsselpunkte zur Anwendbarkeit der Form. Er arbeitete im Sicherheitsdienst (Leibwächter/Transportschutz) in Shandong und war Lehrer an einer Faustkampfschule im Haus von Chen Dehu, wo auch Yang Luchan sein Taijiquan gelernt haben soll.

Chen Xin (1849 - 1929), aus der sechzehnten Generation der Chen-Familie, mit zweitem Namen Pisan, war der dritte Sohn und fünftes Kind von Chen Zhongshen. Er lernte Taijiquan seit frühester Kindheit mit seinem Vater und studierte später ausgiebig die Literatur. Er ist Autor von "Chen Shi Taijiquan Tushou" (Kompendium über Taijiquan in vier Bänden), "Chen Shi Jia Sheng" (Familienchronik), "San San Liu Quang Pu" (336 Faustkampfhandbuch) und anderen Werken. An diesem Manuskript schrieb er zwölf Jahre lang, um erstmals eine ausführliche Beschreibung des Taijiquan der Chen-Familie zu geben.
Kinderlos und in Sorge, seine Schriften können verloren gehen, übergab er seine Werke an den Sohn seines Bruders Chen Chunyuan mit der Aufforderung, sie notfalls zu verbrennen, falls er keinen würdigen Nachfolger dafür fände, damit diese Schriften nicht in falsche Hände geraten würden. "Chen Shi Taijiquan Tushou" wurde 1933 das erste Mal in Kaifeng publiziert. Abschriften des "San San Liu Pu", die sich in den Händen von Chen Lixian und Chen Kezhong befanden, sind während der Kriegswirren verloren gegangen.

Chen Peishan, der sich intensiv mit der Geschichte seiner Vorfahren beschäftigt hat, gibt folgende Hinweise in Bezug auf gängige Irrtümer:
"In der Chen-Familie existierten viele Faustkampf- und Waffenmethoden zur Zeit von Chen Wangting. Von meinem Vater und den älteren Mitgliedern meiner Familie hörte ich unterschiedliche Meinungen darüber, wie viele Formen tatsächlich existieren. Ob nun exakt - wie so oft behauptet - sieben Faustkampfmethoden bestanden kann ich nicht bestätigen. Es gibt keine Aufzeichnungen, die nachweisen könnten, dass Chen Changxing die Faustkampfformen von Chen Wangting neu arrangierte und zu den heute in Chenjiagou praktizierten Formen Yilu und Erlu (Kanonenfaust) formte. Die Behauptung, dass Chen Youben eine neue Stilrichtung Xinjia gründete, ist ebenfalls durch historische Dokumente der Chen-Familie oder frühe mündliche Überlieferungen nicht belegbar. Ein Autor jüngerer Zeit hat vielmehr eine falsche Behauptung aufgestellt, die seither in vielen Büchern (chinesischer und westlicher Sprache) ohne kritische Betrachtung übernommen wurde. Die heute existierenden Richtungen Dajia und Xiaojia der Chen-Familie sollten als ebenbürtige Entwicklungen angesehen werden, aus denen die uns bekannten Taiji-Stile Zhaobao, Yang, Wu, Wu (Hao) und Sun direkt oder indirekt hervorgegangen sind."

Notwendige Begriffserklärung
Einige der ersten gedruckten Publikationen der Chen-Familie stammten von Chen Xin ("Chen Shi Taijiquan Tushou") und Chen Jifu ("Chenshi Taijiquan Ru Men Zongjie") und bezeichnen die in Bild und Text beschriebene Form als "Taijiquan der Familie Chen in 13 Sektionen". Aus dieser Tatsache leitet sich ab, dass zu Lebzeiten der Autoren die heutigen Umschreibungen der unterschiedlichen Ausprägungen im Chen-Stil Laojia (alter Rahmen), Dajia (großer Rahmen), Xiaojia (kleiner Rahmen) und Xinjia (neuer Rahmen) nicht bekannt waren. Die heutige Dajia-Linie beinhaltet zwei ursprüngliche alte (Laojia) und zwei neue (Xinjia) Formen. Man geht davon aus, dass die Xinjia-Formen von Chen Fake (1887 - 1957) entwickelt wurden.

Im Xinjia werden die äußeren Spiralbewegungen mehr betont als im Laojia, der nach außen hin einen ruhigeren und schlichteren Eindruck vermittelt. Die Dajia-Linie genießt mit ihren vielen Vertretern große Popularität und wird von Chen Xiaowang als Familienoberhaupt repräsentiert.

Die Xiaojia-Linie (kleiner Rahmen) kommt aus den Überlieferungen von Chen Wangting, Chen Youben und Chen Xin. In der Nachfolge steht die Familie Chen Lixian vertreten von Chen Peishan, Chen Peilin und Chen Peiju. Der Familienvater Chen Lixian ist verstorben. Seine noch lebende Schwester Liqing ist die erste Frau, die offiziell im Chen-Familienstammbaum als Faustkämpferin erscheint. Weitere Xiaojia - Vertreter sind die Familien von Chen Boxian (1989 verstorben) und Chen Boxiang, Einer der besonderen Unterschiede zwischen den beiden alten Richtungen Dajia und Xiaojia - neben teils unterschiedlichen Bewegungsbildern in der Form - besteht darin, dass im großen Rahmen die Armspirale durch ein horizontales Anheben des Ellenbogens auf Schulterhöhe über das Körperzentrum (Dantien) und die Schulter geöffnet wird.
Xiaojia vermeidet diese Eigenschaft grundsätzlich, das Öffnen der Armspirale geschieht immer über eine kompakte Armhaltung des Ellenbogens, der sich in einer Position zwischen horizontal und vertikal befindet. Dieses spezifische Merkmal hat vermutlich letztendlich zur Namensgebung großer Rahmen/kleiner Rahmen geführt, da diese Charaktereigenschaften im gesamten Bewegungsablauf der Form prägend beibehalten werden. Die Vermutung, dass Dajia nur in großen, Xiaojia in kleinen Bewegungen ausgeführt würden, ist so nicht richtig. In beide Stilarten werden unter Einhaltung ihrer spezifischen Merkmale am Anfang der Lehrzeit große Kreise ausgeführt, um Bänder und Sehnen sanft zu dehnen und die Gelenke zu öffnen. Mit fortschreitendem Verständnis können die spiralförmigen Kreisbewegungen immer kleiner werden, bis hin zu einer völligen Auflösung (des Kreises) im Nichts.

Zhaobao-Taijiquan
Chen Qingping hatte einen für gutes Taijiquan gerühmten Schüler mit Namen Li Jingyan. Die Nachfahren von Li Jingyan bezeichnen ihren Stil auf dem chinesischen Festland als Huleijia (plötzlicher Donner). Das Huleijia-Taijiquan wird heute vor allem im Dorf Wanggedun in der Nähe von Chenjiagou praktiziert. Das besondere Merkmal im Huleijia sind die nach außen auftretenden vibrationsartigen, fast spastisch anmutenden Spiralbewegungen, die in Chenjiagou oft (wohl scherzhaft) folgendermaßen gedeutet werden: Chen Qingping hatte im fortgeschrittenen Alter das Zittern, so wurde von seinen Schülern nicht nur sein Taijiquan, sondern auch sein Altersleiden übernommen.

Huleijia und Zhaobao-Taijiquan erhielten ihren Grundstock durch Chen Qingping, bevor eine weitere Formprägung durch dessen Schüler in Huleijia- und Zhaobao-Taijiquan stattfand. Huleijia und Zhaobao-Taijiquan folgen beide dem Konzept der kompakten Ellenbogenhaltung des Xiaojia. Im Zhaobao-Taijiquan sind die äußeren Armspiralen weniger sichtbar. Anders als im Huleijia wird auch keine zweite Form (Erlu oder Paochui) geübt. Die enge Verwandtschaft zum Xiaojia ist jedoch durch die große Ähnlichkeit der äußeren Form und der kompakten Ellenbogenhaltung ganz offensichtlich. Bei diesen Stilunterscheidungen gilt es jedoch grundsätzlich zu beachten, dass die Prinzipien der Körpermechanik und der Theorie feinstofflicher Prozesse im Taijiquan gleich sein sollten, Die äußere Erscheinung der Form (Taolu) kann sich aber unter Erhaltung der prinzipiellen Grundlagen unterscheiden, es gibt nur ein Taijiquan. Diese Aussage wurde schon von vielen Taijiquan-Meistern gemacht und bezieht sich auf die theoretischen Grundlagen und deren Umsetzung.

Chen-Stil Taijiquan auf Taiwan
Nach der Ankunft von Chiang Kai-shek mit seiner Regierung auf der Insel Taiwan begann sich ab 1949 das Taijiquan rasch zu verbreiten. Unter den etwa 1.200.000 Chinesen, die mit ihm vom Festland flohen, waren Meister des Taijiquan sowie der nördlichen Kampfkünste. Auf Taiwan wurde das Chen-Taijiquan seither durch eine kleine aber besondere Gruppe von Taiji-Meistern weitergegeben. Ein paar dieser Meister sollen hier genannt werden. 

Du Yuzhi (1886 - 1990), Sohn des Regierungsbeauftragten Du Yomei, hatte sein Taijiquan von Chen Yanxi (16. Generation der Chen-Familie, Vater von Chen Fake.
Chen Yanxi war als Sicherheitsbeauftragter und Faustkämpfer bei der Familie Du angestellt. Als er im fortgeschrittenen Alter seinen Dienst quittierte, übernahm Chen Mingbiao seine Nachfolge. Du Yuzhi hatte somit die seltene Gelegenheit, sein Wissen von zwei Taiji-Experten der Chen-Familie zu erhalten, wobei Chen Yanxi ihn im großen Rahmen unterrichtete, Chen Mingbiao im kleinen Rahmen. Meister Du behielt beide Richtungen auch in seinem Unterricht bei. Pan Yongzhou (1905 - 1996) lernte in Peking mit Chen Fake, bevor er nach Taiwan kam. Hier gründete er eine Taijiquan-Organisation und hatte viele Schüler. Wang Jinran war Schüler von Chen Yingde aus der Linie Chen Qingping - Li Jingyuan - Yang Hu. Hierbei handelte es sich um Huleijia, das auf Taiwan mit Xiaojia Taijiquan bezeichnet wird.

Tradition und moderne Entwicklung
Ein abschließender Kommentar von Chen Peishan verdeutlicht die problematische Situation der traditionellen Linien im Taijiquan:

"Traditionelles Taiji oder die traditionellen Kampfkünste allgemein können ihre Kunst heute nur sehr selten öffentlich demonstrieren. Die meisten Veranstaltungen und Wettkämpfe werden nur in den modernen Taijiquan-Formen geführt. Meistens erfahren nur diese Formen eine Förderung der chinesischen Regierung. Hier liegt wahrscheinlich der Grund, warum außerhalb von China Taijiquan meistens nur mit den modernen Standardformen assoziiert wird. Beim Üben dieser bekannten modernen Standardformen wird häufig eine äußere "Kür" einstudiert. Das Ziel liegt darin, für eine gute Vorführung Wettkampfpunkte zu erhalten. Die eigentliche Bedeutung des Taijiquan geht gänzlich verloren. Taiji ist eine Kampfkunst, Wissenschaft und Philosophie für das Leben."